„Demokratie und Erinnerungskultur in Deutschland angesichts rechtsextremistischer Angriffe“ 🎥

Rede zur Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag am 23.02.2018

Sehr geehrter Herr Präsident!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Wege in diesen Saal führen uns vorbei an Wänden, auf denen noch immer die Inschriften derjenigen stehen, die uns alle befreiten – ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker: „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft„.

Es sind die Spuren des Kampfes um das Reichstagsgebäude im April 1945, die erhalten geblieben sind, darunter die Graffiti sowjetischer Soldaten. Ich habe schon manchen Besucher aus dem Ausland ungläubig staunend davor stehen sehen.

Man kann auf den Internetseiten des Bundestages nachlesen: „Der Architekt Sir Norman Foster (geboren 1935) begann unmittelbar nach der Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo, die alten Gipsfaserplatten der 60er Jahre abzunehmen, die vor die Wände des historischen Baus gesetzt worden waren.“

Heute sind die wiederentdeckten kyrillischen Inschriften Teil des demokratischen Alltags hier im Parlament.

Wir lassen es zu. Wir wollen es so. Weil dieses Gebäude, in dem wir heute so selbstverständlich tagen, diese Geschichte hat.

Eine Geschichte, die einen Teil der deutschen Vergangenheit ausmacht, der sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt hat.

Wir erinnern uns in diesen Tagen an den mutigen Widerstand der Geschwister Scholl.

Auch in Gedenken ihrer, müssen wir uns Nationalismen und vergifteten Debatten immer wieder entschieden entgegenstellen.

Es gilt, die geistige und kulturelle Freiheit unseres Landes zu bewahren.

Am besten gelingt dies aber durch Aufklärung und Bildung einer jungen Generation,

  • durch internationalen Austausch, durch die Erfahrung des Anderen.
  • Durch die Erkenntnis, dass die einfachen Antworten nicht unbedingt die richtigen sind.
  • Durch mutige junge Menschen, die Haltung beziehen, die sich nicht ködern lassen von den rechten Verführern unserer Zeit!

Ich wünsche mir, dass eine junge Generation in Deutschland unsere Kultur des Erinnerns weiterträgt und ihren eigenen Umgang mit ihr findet.

Es gibt ja bestimmte Ereignisse, die einen besonders prägen. Für mich ist so ein Ereignis der Besuch in Bergen Belsen und die Diskussion mit einer Zeitzeugin, die unter schlimmsten Umständen überlebt hatte und nach Amerika geflohen war.

Sie erzählte, wie sie Jahre nach Ende des Krieges plötzlich die gewalttätige und sadistische Aufseherin des Lagers zufällig wiedersah: mit einem Pelz bekleidet, in einem Kaufhaus, beim Shopping – ich glaube es war in New York.

Mich hat diese Vorstellung schon als Teenager zutiefst schockiert. Vergessen habe ich es nicht.

 

In den letzten Wochen gab es ja eine Debatte darüber, ob Besuche zu Gedenkstätten verpflichtend sein sollten.

Ich meine: Sie sollten kein Zwang, sie sollten Selbstverständlichkeit sein!

Dazu brauchen junge Menschen Unterstützung! Deswegen bin ich froh, dass wir im Koalitionsvertrag etwa das Programm „Jugend erinnert“ festgeschrieben haben, das noch mehr Möglichkeiten eröffnen soll, Gedenkstätten und Workshops zu besuchen, um den Blick zu schärfen für wachsenden Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit und dafür, eigene Zugänge zu diesen Themen zu entwickeln.

Das wird nun umso wichtiger, denn ja:

Bald gehen auch die letzten Zeitzeugen, die uns von Angesicht zu Angesicht von ihren Erfahrungen erzählen können.

Die historische Aufklärung gehört heute zum Alltagsbild: Museen, Gedenkstätten, Geschichts-Orte, Institutionen und Initiativen ebenso wie die vielen Stolpersteine.

In diesem Zusammenhang ist auch die doppelte Diktaturvergangenheit zu erwähnen, die nach ’89 und dem Fall der Mauer auch Dank einer selbstbewusst agierenden Zivilgesellschaft aufgearbeitet wurde.

Es stimmt: Erinnern war, ist und bleibt ein Prozess. Und auch heute steht im Koalitionsvertrag: Ohne Erinnern keine Zukunft.

Konkret haben wir festgeschrieben:

– Die Unterstützung dezentraler, kleinerer Initiativen,

– die Stärkung der Gedenkstätten und ihrer Weiterentwicklung,

– den europäischen Gedanken durch die Verbindung unserer Geschichte

– und wir werden eine Konzeption zur Darstellung der positiven Momente deutscher Demokratiegeschichte erarbeiten.

– Nicht zuletzt geht es auch um die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes in Zusammenarbeit mit anderen Ländern

– und darum, weniger beachtete Opfergruppen einzubeziehen.

Wir tun das, weil die Kulturarbeit unser Leben bereichert, weil wir Freiräume schaffen für kritischen und demokratischen Diskurs in aufgewühlten Zeiten.

An die Adresse meiner SPD: Das allein ist Grund genug, JA zu sagen – zu Regierung und zu Verantwortung.

In Gedenken an die Geschwister Scholl schließe ich: „Es lebe die Freiheit!“

Vielen Dank


Das Video zu meiner Rede könnt ihr euch hier anschauen: